Stellungnahme des Traumazentrum Kassel

Bereits am 23. Juni 2023 veröffentlichte das Traumazentrum Kassel eine Stellungnahme zur „medialen Darstellung der False-Memory Anschuldigungen“, wie sie es selbst bezeichnen.

Anders als einen fachlichen und rhetorischen Fehlschlag, kann man diese Positionierung in meinen Augen jedoch nicht bezeichnen.

Der Artikel erweckt vielmehr den Eindruck, dass man die Berichterstattung des letzten Jahres als eine Kampagne des Vereins False Memory Deutschland e.V. betrachtet, ohne sich fachlich und inhaltlich genügend mit dem Thema selbst auseinandergesetzt zu haben.

Auf die mir wichtigen Punkte möchte ich im Folgenden eingehen:

Grundlage der Idee der False-Memories ist die Behauptung, dass Betroffenen durch Therapeuten*innen Erinnerungen eingeredet und sie damit endlos lang in Therapie gehalten werden.

Diese Aussage ist falsch. False Memories sind Erinnerungen an nicht erlebnisbasierte Begebenheiten. Um diese Art von Erinnerungen zu entwickeln, ist eine Therapie nicht notwendig. Durch suggestive und geschlossene Fragen können in Therapien allerdings solche Erinnerungen entstehen.

Aber warum sollten Therapeut*innen das tun? Sie alle haben volle Praxen mit langen Wartelisten, können sich also ihr Klientel aussuchen.

An dieser Stelle dürften mehrere kognitive Fehler vorliegen. Es ist falsch das Handeln von Menschen auf sein Wesen, seinen Grad der Beschäftigung oder auf eine monetäre Absicherung zu beschränken. Die Gründe, warum Therapierende False Memories begünstigen, können vielfältig sein. Nicht nur Unwissenheit könnte eine Rolle spielen, sondern ebenso Anerkennung innerhalb akademischer Kreise – insbesondere, wenn ein Wettkampf beginnt, wer die meisten Persönlichkeitsanteile in seiner Therapie aufdecken konnte.

Sowohl der Spiegel als auch die Zeit berufen sich in ihrer Argumentation auf einen exemplarischen Fall und gehen von diesem aus den Weg der Verallgemeinerung. Die Logik spricht hier von einer Kontradiktion, weil sie eben jeglicher Logik entbehrt. (Eine mögliche Fehlerinnerung = alle Erinnerungen sind falsch!). Ignoriert werden dabei die vielen Betroffenen, die wegen ihrer anflutenden Erinnerungen therapeutische Hilfe aufsuchen. Viele von ihnen kommen mit klaren Erinnerungen und suchen wegen dieser Flashbacks therapeutische Hilfe und nicht umgekehrt.

Leider fehlt es der Stellungnahme in dem Sinne an Gehalt, da nicht erwähnt wird, an welchen Stellen die jeweiligen Artikel in eine Verallgemeinerung gehen. Zudem wird vernachlässigt, dass zu Schilderungen (satanisch) rituellen Missbrauchs bisher jegliche Belege fehlen. Gerade bei den vielen Opferberichten und Hinweisen, hätten diese irgendwann zu konkreten Fällen führen müssen. Stattdessen bemühte man sich in der Vergangenheit reale und brutale Missbrauchsfälle organisierter sexueller Gewalt als „sexuelle rituelle Gewalt“ zu framen und diese gleichzeitig als Beweise für Mind-Control zu nutzen.

Letztendlich sind weder die einzelnen Fälle aus den Artikeln noch die vielen Berichte von Opfern in irgendeiner Art und Weise brauchbar, wenn diese keine konkreten Beweise hervorbringen. Würde man sich an solchen Standards orientieren, würde man heute immer noch Sklaven halten, Hexen verbrennen und auf einer flachen Erde im Zentrum des Universums leben.

Ignoriert wird die Tatsache, zu welch grauenvoller organisierter und ritueller Gewalt Menschen Im Laufe der Geschichte schon immer fähig waren: die Inquisition, die Hexenverfolgungen, die Teufelsaustreibungen im kirchlichen Kontext, die Menschenexperimente der Nazis, die staatlich legitimierten Folterungen in vielen Teilen der Welt… Wo sind sie alle geblieben? Die Sadisten in unserer „kultivierten westlichen“ Welt? Sowas gibt es bei uns nicht? Nicht mehr? Glaubt das wirklich jemand?

Dieser Absatz grenzt an Ironie, wenn man die Frage aus dem Anfang der Positionierung berücksichtigt. Warum sollten Therapierenden in allen Fällen moralisch erhaben und frei von Fehlern sein? Letztendlich sind diese auch nur Menschen.

Eine Glorifizierung des eigenen Berufstandes ist fehl am Platz. Zudem sei angemerkt, dass sich Therapierende auf unbewusste Verdrängung berufen, wenn jemand abstreitet gewisse Erfahrungen gemacht zu haben. In diesem Punkt liegt die gleiche Willkür vor, wie es bei der Hexenverbrennung der Fall war.

An dieser Stelle handelt es sich vielmehr um ein klassisches Strohmann-Argument. Anstatt über die Existenz gefälschter Erinnerungen und Ritueller Gewalt zu diskutieren, lenkt man die Aufmerksamkeit auf Bereiche, die nie jemand abgestritten hat.

In dem Spiegelartikel vom 11.3.2023 wird einer Betroffenen (mit ihrer gut nachvollziehbaren Motivation, ihre Erinnerungen zu dementieren) mehr geglaubt, als tausenden anderer Betroffener.

Der Unterschied liegt nicht in der Anzahl, sondern in den Beweisen. Das Traumazentrum nimmt generalisierend sämtliche Therapierende in Schutz, ohne den Fall auch nur im Ansatz zu kennen oder auch nur eine einzelne Zeile aus den Akten gelesen zu haben. Stattdessen wird reflexartig auf subtile Art und Weise einer Betroffenen eine Lüge unterstellt und die Glaubwürdigkeit abgesprochen, weil diese nur daran interessiert sei das Sorgerecht für ihr Kind wieder zugesprochen zu bekommen. Diese Art ist in höchstem Maße despektierlich, da man den einzelnen Fall nicht kennt. Vor allem wird in der ganzen Stellungnahme nicht darauf eingegangen, dass ein spontanes Wechseln von Augenfarben medizinisch nicht möglich ist. Man ignoriert gekonnt nachweisbaren Blödsinn, der durch den Spiegel-Artikel aufgedeckt wurde.

Die Gedächtnis“forscherin“ Elisabeth Loftus wird von der Zeit sogar mit der Aussage zitiert, sie wolle lieber zehn Schuldige frei herumlaufen sehen, als einen Unschuldigen zu verurteilen. Wie zynisch und brutal muss man sein, um lieber zuzulassen, dass eine Vielzahl an Menschen leiden und Kriminelle weiter ihre Taten begehen als Betroffene vor sexueller organisierter Gewalt schützen zu wollen?

Dieser Vergleich ist ein moralischer Appell, der keine fachliche Auseinandersetzung darstellt. Vielmehr zeugt er von einem großen Desinteresse an wissenschaftlich fundierten Standards in der Strafverfolgung. Es fehlt anscheinend an dem Willen, die Qualität forensisch psychologischer Begutachtungen zu verbessern. In Wirklichkeit sind beide Ziele durchaus miteinander vereinbar: Straftäter verurteilen und Unschuldige vor Schaden bewahren.

„In dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten. Auch in der Positionierung des Traumazentrum Kassel ist erkennbar, dass angestrebt wird vermeintlichen Opfern mehr als den Beschuldigten zu glauben. Dies öffnet Tür und Tor für Verleumdung und Beweislastumkehr. Solche Bestrebungen dürften der Grund sein, warum manche WissenschaftlerInnen die Wissenschafsorientierung in Sexualstrafverfahren in Gefahr sehen. Man ist bereit Kollateralschäden billigend in Kauf zu nehmen, anstatt eine saubere Aufarbeitung von Missbrauchsfällen zu fokussieren.

In all diesen Artikeln über suggerierte, eingepflanzte Erinnerungen durch Therapeuten*innen wird weder unterschieden zwischen Vergessen (und dem Wiedererinnern), Verdrängen (und Erinnerungscluster zurückholen) und der dissoziativen Barriere (und der ihr eigenen Erinnerungsprozesse). Es wird unterstellt, dass wer sich nicht an solch gravierende Erlebnisse erinnern, diese auch nicht erlebt haben kann.

Für das Konzept der Verdrängung gibt es keine überzeugende wissenschaftliche Grundlage, egal wie oft diese wiederholt wird.

Diese Aussage wurde, mehr oder weniger, von Henry Otgaar et al., in dem Forschungsartikel „The Return of the Repressed: The Persistent and Problematic Claims of Long-Forgotten Trauma“ umfangreich diskutiert. Ebenso in einer aktuelleren Arbeit von 2021: „Belief in Unconscious Repressed Memory Persists“.

Bereits im Jahr 2018 beschäftigte sich Julia Shaw mit dem Fortbestand einer False Memory Debatte innerhalb Europas.

Es werden Experimente (1) benannt, die die These von eingeredeten Erinnerungen untermauern sollen aber Untersuchungen, die die Ergebnisse dieser sogenannten „Mall-Experimente“ widerlegen und deren Verfälschungen aufzeigen (2) werden weggelassen.

Dieser Absatz vernachlässigt, dass der Effekt von False Memories vielfach reproduziert werden konnte. In einer Mega-Analyse wurden aus acht verschiedenen Arbeiten insgesamt 423 Berichte untersucht, die nach den Kriterien der Loftus-Studie handelten.

Aktuellere Studien aus Deutschland konnten den Effekt von False Memories ebenso reproduzieren.

Es findet in den aktuellen Medienartikeln keine kritische Auseinandersetzung statt, sondern eine einseitig tendenziöse Beweisführung entlang einer unbewiesenen Hypothese. Die Frage sei gestattet, wozu und wem dient diese einseitige Darstellung?

Diese Fragen kann man wohl so zurückgeben.

Der Spiegel leistet sich sogar den klaren journalistischen Faux Pas, eine nichtverurteilte Therapeutin mit vollem Namen eines (…) Fehlverhaltens zu beschuldigen – (das Wörtchen „vermeintlich“ fehlt ganz!) Die beiden Journalisten scheinen stattdessen von „Tatsachen“ auszugehen. Und sie begründen die Offenlegung des Namens der Therapeutin mit der Schweigepflichtsentbindung durch die Betroffene, die diese aber doch nur gegenüber der Therapeutin aussprechen kann!

Der Spiegel berichtete in seinem Artikel „Gefährliche Mythen, gefördert vom Bundesfamilienministerium“, dass die Beschwerde bei der Psychotherapeutenkammer anerkannt und ein Berufsvergehen festgestellt wurde. Dieser Einwand dürfte damit als obsolet betrachtet werden. Der Artikel des Spiegels erschien vor Veröffentlichung der Positionierung des Traumazentrum Kassel.

Der Rest der Positionierung ist vernachlässigbar. Anstatt auf Studien zu verweisen, die fachliche Gründe gegen False Memories untermauern, verweist man auf den YouTube-Kanal einer Betroffenen, in der lediglich der Artikel des Spiegels behandelt wird.

Auch Aufrufe wie „[…] sollten wir gewappnet sein und miteinander unsere Erfahrungen und Positionen klären!“ sind irrelevant, da hier wieder mal gezeigt wird, dass man anekdotische Evidenz höher bewerten möchte als eine Evidenz, die tatsächlichen wissenschaftlichen Standards genügt.

Immer wieder trifft man in Stellungnahmen auf Fehler und Argumentationen, die nicht zu einer auf Fakten basierten Debatte beitragen.

Ebenso in der Positionierung des Traumazentrum Kassel wird darauf verzichtet, gar ignoriert, offensichtliche Falschaussagen zu erwähnen. Kein Kommentar zu spontan ändernden Augenfarben und auch kein Bezug auf die These des Mind-Control.

Insgesamt kann die Positionierung zwar zur Kenntnis genommen werden, aber weder fachlich noch rhetorisch überzeugen, geschweige denn einen sinnvollen Beitrag zur Debatte leisten.

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Quellen