Fortsetzung eines wissenschaftlichen Diskurses

Diese Woche sind zwei wissenschaftliche Artikel zum Thema Rituelle Gewalt erschienen, inklusive darauf erfolgter Reaktionen. Insgesamt eine begrüßenswerte Entwicklung, da diese Debatte innerhalb der Fachwelt aufgegriffen werden muss, um langfristig eine Klärung herbeizuführen.

Am Montag, den 15. April 2024, eine Kritik von Mokros et al zum Thema Rituelle sexuelle Gewalt, in deren Fokus hauptsächlich durch das Bundesfamilienministerium geförderte Forschungsprojekte standen.

Folgende Punkte wurden in dieser Kritik aufgegriffen:

  • Fehlende Befassung mit kritischer Literatur zu ritueller sexueller Gewalt
  • Ungeprüfte und selektive Übernahme von Angaben zu psychischen Störungen
  • Gedächtnispsychologisch unplausible Angaben
  • Darstellung der intentionalen Herbeiführung Dissoziativer Identitätsstörung als Faktum
  • Fehlende Auseinandersetzung mit der Möglichkeit von Suggestionsprozessen

Im Kern orientierten sich die Kritisierenden an einer Studie von Nick et al, aus dem Jahr 2018, da diese eine Basis für weitere Studien darstellte. Aus der Datenbasis der Studie leiten die Kritisierenden ab, wieso ein Großteil der Angaben vermutlich auf Fehlannahmen beruhen könnte.
So wird zum Beispiel benannt, dass die selbst-definierten Betroffenen in vier Fünfteln der Fälle von einer absichtlich herbeigeführten Persönlichkeitsspaltung berichteten. Das absichtliche Herbeiführen dissoziativer Persönlichkeitsanteile ist eine klassische, wissenschaftlich nicht haltbare, Annahme der Satanic Panic.

Der Kommentar zur Kritik, durch die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, erfolgte wie man es bereits gewohnt ist: Am Thema vorbei.

Wie bereits mehrfach vorgekommen und bereits mehrfach kritisiert, erfolgte zum Beispiel erneut eine Gleichsetzung von Ritueller Gewalt zu organisierter sexueller Gewalt, ohne ideologische Motive. Weiterhin wurde Mind-Control erneut mit Manipulation gleichgesetzt, was der Kritik nicht gerecht wird.

Wiederholt wurde eine “pauschalisierte Diskreditierung von Fachkräften der psychosozialen Praxis” erwähnt, was durch die Aufarbeitungskommission selbst zuerst in den Raum geworfen wurde.

Ein wenig Verwunderung hinterließ bei mir folgender Absatz:

Zudem gibt es kaum Wissen darüber, welche psychologischen Manipulationstechniken von Täter_innen in Kontexten von organisierter und ritueller sexualisierter Gewalt und Ausbeutung angewendet bzw. gezielt eingesetzt werden.

Explizite Literaturempfehlung der Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten, zum Thema Rituelle Gewalt, ist das Buch “Rituelle Gewalt – das (Un)heimliche unter uns”. Herausgegeben von Brigitte Hahn und den Arbeitskreisen Rituelle Gewalt der Bistümer Osnabrück, Münster und Essen.

In diesem Buch steht ab Seite 268 nicht nur was angeblich gemacht wird, sondern auch in welchem Alter und was damit bezweckt werden soll. Stromschläge, von Hunden abgeleckte Intimbereiche, alles mit dem Zweck der Konditionierung. Fein säuberlich sortiert nach Altersgruppen.

Brigitte Hahn war Teil des Fachkreises zum Thema Rituelle Gewalt, dessen Informationen mit in die kritisierten Arbeiten der Aufarbeitungskommission einfloss.

Die Reaktion auf den Kommentar der Aufarbeitungskommission wirkte wie ein erneutes Debunking, wobei man sich dem Vorschlag eines “sachlichen und kritisch-konstruktiven Austausch” anschloss.

Ein bisheriger Austausch zwischen Fachgesellschaften und Unabhängiger Missbrauchsbeauftragten fand lediglich hinter verschlossenen Türen statt, ohne dass Inhalte und Aussichten nach außen hinreichend kommuniziert wurden.

Den Versuch einer Vermittlung zwischen verhärteten Fronten, stellte der Artikel “Ritueller sexueller Missbrauch” von Jörg M. Fegert und Frank Urbaniok dar. Beide orientieren sich mit ihrer Sichtweise am Patientenwohl.

Frank Urbaniok positionierte sich in der Vergangenheit klar gegen die verschwörungstheoretischen Inhalte in Traumatherapien. Jörg M. Fegert kennt man bisher eher als Verteidiger der Existenz Ritueller Gewalt als Verbrechensform, doch auch er positioniert sich mit der Veröffentlichung klar zur Existenz von suggestiven Faktoren in Psychotherapien und gegen die These des Mind-Control.

Beide Autoren erachten eine differenziertere Betrachtung des Themas Rituelle Gewalt als notwendig, sowie die Schließung von Forschungslücken und Einhaltung von Behandlungsleitlinien.

Was in der Ausarbeitung von Fegert und Urbaniok für mich schwer verständlich ist, ist folgende Aussage:

Dabei kann im Opferhilfekontext und in der Krankenbehandlung auch nicht die vom deutschen BGH in Strafsachen zum Grundprinzip stilisierte Annahme, dass zunächst davon auszugehen sei, dass die Aussage von Betroffenen falsch sei („Nullhypothese“ sensu BGH), allgemein handlungsleitend sein. Es gibt viele gute Gründe, Erlebtes nicht zu offenbaren.

Woher die Annahme kommen könnte, dass man dies im therapeutischen Kontext erwartet, erschließt sich mir nicht. Diese Positionierung geht jedoch in eine ähnliche Richtung, wie es von der Aufarbeitungskommission gegenüber Mokros et al postuliert wurde.

Fegert und Urbaniok finden die Nullhypothese zugunsten des Zweifelsgrundsatzes nachvollziehbar, vergessen in meinen Augen jedoch, dass der Fokus dabei nicht auf der Therapie liegt. Insbesondere kann man bei False Memories keine Lügen unterstellen, da sich falsche Erinnerungen nicht von echten unterscheiden lassen. Es wird nicht das Leid, sondern die Ursache dahinter angezweifelt! Was auch nicht vergessen werden sollte, dass False Memories keinen Missbrauch ausschließen.

Die Tendenz, die Nullhypothese im Kontext sexuellen Missbrauchs ausschließen zu wollen, finde ich bedenklich, da eine Abschaffung im schlimmsten Fall zu einer Beweislastumkehr führen kann.

Die Fortführung einer Debatte im wissenschaftlichen Rahmen finde ich gut, da es mir die Hoffnung lässt, dass sich doch noch etwas ändern wird.
Jedoch konnte das Thema seit Jahrzehnten reifen und im politischen Umfeld salonfähig werden. Es ist zu einem großen Anteil politisch geworden, mit einem riesigen Helfersystem, was jede Menge finanzieller Unterstützung benötigt.

Durch die Fortsetzung eines wissenschaftlichen Diskurses besteht vielleicht die Chance, dass sich das Thema zumindest gesellschaftlich klären lässt, wenn schon die Politik auf Durchzug schaltet.

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Quellen