Definitionen Rituelle Gewalt

15. August 2025  Wissenschaft 16 

Auf der Webseite Infoportal Rituelle Gewalt ist eine umfangreiche Sammlung bekannter Definitionen “Ritueller Gewalt” zu finden. Insgesamt 20 verschiedene Definitionen, die seit 1991 einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichen konnten.

Was die öffentliche Debatte betrifft, lassen sich immer wieder Unterschiede feststellen, was die verschiedenen Seiten unter Ritueller Gewalt verstehen.

In der Vergangenheit bemängelten Kritiker eine stete Begriffsverschiebung, wie zum Beispiel die Vermeidung des Begriffs Satanismus. Durch das Weglassen bestimmter Schlagworte würde dem Thema mehr Glaubwürdigkeit verliehen, ohne sich der inhaltlichen Kritik stellen zu müssen.

Die Autoren Gerke et al setzten sich in einem Review das Ziel, eine Übersicht zu den vorherrschenden Begriffsverwendungen “Ritueller Gewalt” aus wissenschaftlicher Literatur herauszuarbeiten.

Definitionen Ritueller Gewalt - Wovon sprechen wir?

Das zugrundeliegende Problem beschreiben die die Autoren dabei wie folgt:

Die Diskussion um rituelle Gewalt polarisiert in den Medien und der öffentlichen wie der fachlichen Debatte bereits seit den 1980er-Jahren. Inzwischen wird oft zusammenfassend von organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt (ORG) gesprochen, wobei eine klare Eingrenzung und eindeutige Verwendung der Begrifflichkeiten bisher weitestgehend ausbleiben.

Diese Sichtweise stimmt in etwa mit der des Theologen Kai Funkschmidt überein.

Derzeit haben „Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen“ (ecpat.de), „Organisierter sadistischer Kindesmissbrauch“ (Niederlande) und „Organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt“ (UBSKM) Konjunktur. Sie haben die noch vor kurzem übliche „Organisierte Rituelle Gewalt“ (ORG) abgelöst.

(GWUP-Texte | „Rituelle Gewalt“ und „Mind Control“, S. 11)

Der Arbeitsauftrag

Um sich einen Überblick zu den unterschiedlichen Definitionen zu verschaffen, wurde für den Review folgender Arbeitsauftrag definiert:

Im vorliegenden kurzen narrativen Review soll eine Übersicht und Diskussion der in der bisherigen Literatur verwendeten Begrifflichkeiten und Definitionen zu organisierter sexualisierter sowie ritueller Gewalt, aber auch den verwandten Themengebieten des sexuellen Missbrauchs durch mehrere Täter:innen sowie der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Minderjährigen gegeben werden.

Als Grundlage für das Narrative Review dürfte eine zum Zeitpunkt der Erstellung noch nicht veröffentlichte “Expertise zu Begrifflichkeiten und Häufigkeiten im Bereich organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt” hergehalten haben.

Bereits im Arbeitsauftrag findet eine Vermischung Ritueller Gewalt mit anderen Themen statt, die in den Debatten an keiner Stelle infrage gestellt wurden.

Angemerkt sei dazu, dass keine Definitionen berücksichtigt werden, die außerhalb von sexuellem Missbrauch stattfinden. Rituellen Tötungen der Mayas, Hexenverfolgung in Afrika oder auch die Genitalverstümmelung bei Kleinkindern. Diese Themen werden von einzelnen Autoren ebenfalls unter “Rituelle Gewalt” verschlagwortet.

Weitere Einschränkungen ergeben sich aus den von den Autoren genannten Suchparametern und Limitationen.

Schlussfolgerungen der Expertise wurden im Narrativen Review nur teilweise berücksichtigt. Aufgrund der größeren Ausführlichkeit und Transparenz ist die Expertise zu bevorzugen. Ergänzt wurde das Review um einige Definitionen “Ritueller Gewalt”, die hingegen in der Expertise nicht explizit aufgeführt wurden.

Hätte man sich ausschließlich am aktuellen Diskurs orientieren wollen, wäre es vermutlich sinnvoller gewesen die Kontexte um die Begriffe “Rituelle Gewalt” oder “Ritueller Missbrauch” zu überprüfen. An dieser Stelle scheuten sich die Autoren leider zusätzlichen Aufwand zu betreiben und Erkenntnisse der Expertise in den neueren Arbeitsauftrag einfließen zu lassen.

Für beide Arbeiten wurde eine Förderung durch die UBSKM benannt.

Exkurs: Elemente Ritueller Gewalt

Wie viele andere Verschwörungstheorien enthält auch das Thema “Rituelle Gewalt” einige reale Elemente, weswegen es wichtig ist das Gesamtkonstrukt zu betrachten.

Kritisierte könnten dazu neigen die Auseinandersetzung in Bereichen auszutragen, die kein Teil der Diskussion sind. Dies führte teilweise zu allgemeinen Diskussionen über sexuelle organisierte Gewalt oder die Existenz der Dissoziativen Identitätsstörung.

Kritik bezieht sich in der Regel auf ein Gesamtkonstrukt, welches man sich wie folgt vorstellen kann

  • Sexueller Missbrauch mit ideologischen, oftmals satanistischen, Hintergrund
  • Missbrauch findet über Generationen hinweg innerhalb der Familie statt, teilweise mit Prostitution unter Mitwirkung anderer Täter und/oder Tätergruppen
  • Durch schwerste Traumatisierung wird bei Opfern gezielt eine Dissoziative Identitätsstörung mit mehreren, unabhängigen, Persönlichkeitsanteilen erzeugt
  • Das Opfer, oder vielmehr einzelne Persönlichkeitsanteile des Opfers, werden mit Mind-Control Techniken programmiert und sind durch Täter steuerbar

Innerhalb dieser Subthemen entstanden für sich selbst berechtigte Diskurse, welche allerdings eher der Diskussion wissenschaftlicher Detailfragen dienen. Als Beispiel sei hier die Entstehung einer Dissoziativen Identitätsstörung durch traumatische Kindheitserfahrungen genannt. (Herzog, 2025)

Die Existenz der Störung wird von Kritikern in der Regel nicht angezweifelt, allerdings die gezielte Herbeiführung von Persönlichkeitsspaltungen.

Um im Kontext von Verschwörungstheorien eine bessere Abgrenzung zu realen Fällen zu erreichen, entschieden sich die GWUP und Dr. Kai Funkschmidt den Begriff “Rituelle Gewalt Mind-Control-Theorie” zu verwenden.

Das Programmieren von Opfern mit Mind-Control Techniken stellt wohl den Teil der Theorie dar, der am ehesten hinterfragt wird. Wie beim Begriff Rituelle Gewalt, wird Mind-Control inzwischen unterschiedlich gedeutet und teils mit Konditionierung oder Manipulation gleichgesetzt.

Die Datenbasis

Gesucht wurde in verschiedenen Datenbanken, nach peer-reviewten Artikeln in englischer oder deutscher Sprache. Weitere Quellen wurden ebenfalls erwähnt, wobei es hier an Transparenz fehlt wie diese Quellen ausgewählt und eingeordnet wurden.

Die Autoren geben im Abschnitt Limitationen an, dass bestimmte Literatur nicht berücksichtigt wurde, wie zum Beispiel Erfahrungsberichte. Der Fokus soll auf medizinisch-psychologischen Quellen gelegen haben, wodurch auch sozialwissenschaftliche Literatur “vernachlässigt” wurde. Ob diese nicht, oder nur in Teilen, herangezogen wurden, lässt sich aus der Ausarbeitung nicht erkennen.

Die intransparente Auswahl der Quellen ist den Autoren bekannt und wird offiziell als Limitation angegeben.

Das Suchmuster

Das dafür genutzte Suchmuster unterteilte sich in drei Blöcke:

  1. ( sex trafficking
    OR commercial sexual exploitation
    OR organized sexual abuse
    OR ritual abuse
    OR satanic abuse
    OR sexual abuse material
    OR pornography
    OR sexual exploitation material)
  2. AND (child* OR teen OR minor OR adolescent)
  3. AND (definition OR characteristics)

Die Expertise zu Begrifflichkeiten und Häufigkeiten im Bereich organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt unterscheidet sich im dritten Block des Suchparameters. Die Expertise enthält neben “definition OR characteristics” zusätzlich die Wörter “prevalence OR frequency”.

Das Sternchen im Suchbegriff “child*” ist ein Platzhalter für ein Suchmuster. Dies ist dazu gedacht, um auch Wortähnlichkeiten wie “children“ zu berücksichtigen.

Es wird vorausgesetzt, dass mindestens das Wort “definition” oder “characteristics” vorkommt und mindestens ein Wort, was child*, teen, minor oder adolescent entspricht.

Die Suche von PubMed arbeitet mit MeSH-Terms. Dies bedeutet, dass bestimmte Schlagworte in der Suche ergänzt werden, damit man Artikel besser nach Themenfeldern durchsuchen kann. Alternative Begriffe werden automatisch in der Suche berücksichtigt.

Die für deutsche Literatur verwendeten Suchparameter wurden nicht angegeben. Angesichts dessen, dass das Problem unterschiedlicher Definitionen Ritueller Gewalt für Deutschland untersucht werden soll, wäre es transparenter gewesen die Suchparameter in Deutsch abzudrucken, anstatt in Englisch.

In Deutschland sind sowohl “Rituelle Gewalt” als auch “Ritueller Missbrauch” übliche Bezeichnungen. Die Autoren haben in der Vergangenheit für eigene Übersetzungen bereits den Begriff “ritual violence” in ihren Arbeiten verwendet, allerdings nicht bei den Suchparametern zur Literaturrecherche. Diese Entscheidung stellt eine weitere Limitation in der Literaturauswahl dar. Ergänzt man auf PubMed den Suchbegriff “OR ritual violence” werden insgesamt neun Quellen mehr aufgelistet. (Stand 23.07.2025)

Zusätzlich ist zu beachten, dass nicht jede Plattform eine MeSH-Suche unterstützt, sondern unter Umständen eigene Suchfunktionen bereitstellt. Ob die Autoren diverse Tools genutzt haben, um Unterschiede auszugleichen, wird weder aus der Expertise noch aus dem narrativen Review ersichtlich.

Insgesamt dürfte es unnötig sein nur Arbeiten zu berücksichtigen, die sich gezielt oder zusätzlich auf minderjährige Personengruppen beziehen. Eher wird dadurch das Suchergebnis verfälscht und nur eine reduzierte Auswahl an Literatur berücksichtigt.

Die Autoren schreiben in “Expertise zu Begrifflichkeiten und Häufigkeiten im Bereich organisierter sexualisierter Gewalt” an mehreren Stellen, dass laut der hinzugezogenen Literatur ein Missbrauch auch im Erwachsenenalter stattfinden kann. Diese Erkenntnisse hätte man im Review berücksichtigen und die Suchparameter entsprechend anpassen können.

Insgesamt zeigt sich eine starke Heterogenität in den in der Literatur verwendeten Definitionen ritueller Gewalt. Die meisten Definitionen beschreiben, dass rituelle Gewalt in Kontexten stattfindet, in denen von den Täter*innen eine (instrumentalisierte) Ideologie verfolgt wird, als Gruppe oder durch eine Person ausgeübt werden kann und entweder lediglich Kinder oder sowohl Kinder als auch Erwachsene betroffen sind. In den meisten Definitionen werden die Formen der Misshandlung nicht genauer erläutert. (Gerke et al, 2023, S. 20)

In den von den Autoren untersuchten Studien waren Elemente sexuellen Missbrauchs immanent. Über den Fachbereich hinaus wird der Begriff Rituelle Gewalt ebenso im Kontext weiblicher Genitalverstümmelung verwendet, erfüllt allerdings nicht die Kriterien um in das Suchraster in Verbindung mit sexueller Gewalt zu fallen.

Dem Suchmuster entsprechend dürften aus den Datenbanken nur Arbeiten angezeigt werden, die explizit eine Definition, Merkmal oder Eigenschaften aufführen. Wenn die Suche mit Wortübereinstimmung durchgeführt wird, entfallen Artikel mit Inhalten wie “Ritueller Missbrauch ist eine besonders schwere Form der Gewalt, oftmals von Kindheit an …”, nur weil das Wort “Definition” nicht verwendet wird.

Lässt man die Bedingung einer Definition weg, steigt allerdings auch die gefundene Literatur auf über 11.000 Werke an. Würde man hingegen die Suche um die Angabe “AND (ritual abuse OR ritual violence)” ergänzen, käme man bei PubMed auf eine überschaubare Anzahl von 52 Quellen.

Die Suchergebnisse dürften in dem Sinne zwar den selbst gestellten Arbeitsauftrag weitestgehend erfüllen, klären aber nicht die Frage, in welchen Kontexten der Begriff “Rituelle Gewalt” allgemein benutzt wird. Das Suchmuster selbst gibt bereits vor, dass es sich um eine Form des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen handeln muss.

In welchen Quellen es sich um das kritisierte Rituelle Gewalt – Mind-Control handelt, müsste aus der jeweiligen Literatur erschlossen werden.

Abschließend betrachtet fehlt es den Suchparametern an Transparenz und logischer Konsistenz. Es ist nicht ersichtlich, warum einige Begriffe ein Sollkriterium darstellen und andere wiederum nicht. Es lässt vermuten, dass die Autoren ihre eigenen Vorstellungen zur Definition bereits mit in die Suchparameter eingebracht haben und dabei an ihren eigenen Kernthemen festgehalten haben.

Sozialwissenschaft in der Literaturauswahl vernachlässigt

Definitionen aus dem Bereich der Psychologie und Psychiatrie zu untersuchen ist absolut sinnvoll, jedoch ist es nur wenig nachvollziehbar Fachliteratur aus dem Bereich der Sozialwissenschaften zu vernachlässigen. Ähnlich verhält es sich bei Definitionen aus Opferberichten, da diese oftmals als Beweis von Ritueller Gewalt gewertet werden und man sich immer wieder auf diese beruft.

Aus dem Bereich Sozialwissenschaften stammen viele Vertreter der Verschwörungstheorie, welche politisch aktiv sind und öffentliche Entscheidungsprozesse im erheblichen Umfang beeinflussen.

So zum Beispiel der Diplom Sozialpädagoge Thorsten Becker, der bereits seit den 90ern das Thema in Deutschland vorantreibt und als enger Vertrauter von Michaela Huber gesehen werden kann.

Eine Vertreterin der ersten Stunde ist die SPD-Politikerin Renate Rennebach, deren Stiftung sich sogar auf eine Definition des Sozialpädagogen Becker bezieht.

Definition Rituelle Gewalt bei der Renate Rennebach Stiftung

Definition ”Rituelle Gewalt”, Renate Rennebach Stiftung

Zur Person Renate Rennebach: Als SPD-Mitglied engagierte sie sich bereits in den 90ern politisch für die Behandlung des Themas Rituelle Gewalt. Als sektenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, initiierte sie die oft erwähnte Enquête Kommission “Sog. Sekten und Psychogruppen”.

Später, im Jahr 1998, stellte sie die Anfrage “Rituelle Gewalt in Kinderhändlerringen und destruktiven Kulten” (13/11216) an den Deutschen Bundestag.

Erwähnung finden Beckers Arbeiten ebenso durch Christine Bergmann, erste Unabhängige Missbrauchsbeauftragte und Mitglied der Aufarbeitungskommission.

Einige Mitglieder der Aufarbeitungskommission kommen selbst aus dem Bereich Sozialwissenschaften. Insbesondere die Personen, die sich gegenüber Kritik bisher besonders renitent zeigten:

  • Julia Gebrande: Diplom Sozialpädagogin und MA Soziale Arbeit
  • Silke Birgitta Gahleitner: Studium der sozialen Arbeit
  • Barbara Kavemann: Diplom in Soziologie und freiberufliche Sozialwissenschaftlerin

Ebenfalls oft erwähnt und zitiert wird Claudia Igney, Sozialwissenschaftlerin (MA).

Wenn es um Schutzkonzepte und Betreuung von Opfern geht, dürften Betreuende ebenfalls vermehrt aus dem Bereich der Sozialwissenschaften stammen. Bedenkt man die Umstände, dass Jugendämter in der Berichterstattung der letzten Jahre kritisiert wurden, ist es unabdingbar den Bereich Sozialwissenschaften ebenfalls einzubeziehen.

An der Stelle sei auch an die Ehrung eines Hochschulabsolventen Sozialer Arbeit aus Münster erinnert, der mit seiner Abschlussarbeit zum Thema “Rituelle Gewalt” punkten konnte und dafür einen Hochschulpreis erhielt. (Sozial.de, 2023)

Die Verbreitung des Themas Rituelle Gewalt wird zu einem bedeutenden Teil außerhalb des medizinisch-psychologischen Fachbereich vorangetrieben. Die Ausgrenzung entsprechender Literatur ist mit dem Hintergrund doch sehr irritierend und wenig nachvollziehbar.

Mind-Control auf dem Prüfstand?

In ihrer Expertise appellieren die Autoren den Begriff “Mind Control” auf Basis der wissenschaftlichen Literatur zu hinterfragen.

Zu diesem Begriff existieren, wie zum Begriff Rituelle Gewalt, unterschiedliche Verwendungen.

Die Autoren schreiben dazu

Der Begriff des „Mind Control“ sollte auf der Basis der wissenschaftlichen Literatur hinterfragt werden. In der deutschen Debatte wird nicht nur im Kontext ritueller Gewalt, sondern auch unter ganz anderen Vorzeichen, in familienrechtlichen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Parental Alienation Syndrom (PAS), nicht selten von „Mind Control“ gesprochen. Dabei wird unterstellt, dass z. B. Mütter eine Technik erlernen könnten, welche eine Gehirnwäsche ihrer Kinder darstelle.

Die Autoren weisen zwar auf unterschiedliche Definitionen hin, eine Benennung von Quellen bleibt jedoch aus. Nach eigenen Recherchen wird der Begriff nicht im großen Umfang mit dem Begriff PAS und Gehirnwäsche verwendet.

Eine kurze Suche unter Google findet lediglich einen Verweis auf die Webseite DadsDivorce.com, auf der Mind Control und PAS überhaupt im Zusammenhang erwähnt werden. Die Webseite verweist in einem Blogbeitrag zum Thema “Parental Alienation Syndrome: Power and Mind Control In PAS” auf einen Vortrag von Dr. Glenn Ross Caddy.

Es scheint sich bei Dr. Glenn Ross Caddy um einen bekannteren Psychologen zu handeln, wobei man nach öffentlichen Informationen anscheinend intensiver suchen muss.

Eine Beschreibung, die auf mehreren Webseiten zu Dr. Caddy gefunden wird, lässt aufhorchen:

“Dr. Caddy also has worked extensively in issues involving the formation of cults and of mind control.”

Eine Arbeit von Glenn Caddy trägt zwar den Begriff “Mind Control” im Titel, beschäftigt sich laut Beschreibung allerdings mit der Manipulation einer jungen Frau und nicht mit entfremdeten Kindern. Eine genauere Prüfung konnte aufgrund des fehlenden Volltextes nicht durchgeführt werden.

Dass die Themen Parental Alienation (Syndrom) und Mind Control oft in einen Zusammenhang gebracht werden, bestätigt sich auf den ersten Blick jedenfalls nicht.

Den deutschen Raum betreffend: Eine Suche auf der Webseite OpenJur liefert gerade einmal zwei veröffentlichte Urteile mit dem Begriff “Mind Control”. Dieses geringe Vorkommen lässt sich auch nicht damit erklären, dass Verfahren im Kindschaftsrecht ohne Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden, da diverse Verfahren durchaus veröffentlicht wurden, wie zum Beispiel ein bekannteres Sorgerechtsverfahren am AG Schwäbisch Hall, 30.06.2021 - Aktenzeichen 2 F 318/19.

Was die Autoren Gerke, Fegert & Co nicht beachten, dass die Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Kontexten nicht bedeutet, dass der Begriff in diesen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen erhält. Aufgrund fehlender Quellenangaben lässt sich nicht prüfen, ob dem Begriff “Mind Control” auch unterschiedliche Bedeutungen zugeordnet wurden.

Doch wie sieht es in den Quellen der Autoren und dem Begriff Mind Control aus? Beide Arbeiten, sowohl das narrative Review als auch die Expertise, verweisen bei der Definition unter anderem auf den Fachkreis für sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen.

Aus dieser Quelle ist folgende Erklärung zu Mind Control zu entnehmen:

Organisierte und rituelle Gewaltstrukturen können eine umfassende Kontrolle und Ausbeutung von Menschen durch Mind-Control-Methoden beinhalten. Die planmäßig wiederholte Anwendung schwerer Gewalt erzwingt spezifische Dissoziation bzw. eine gezielte Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit. Die entstehenden Persönlichkeitsanteile werden für bestimmte Zwecke trainiert und benutzt. Ziel dieser systematischen Abrichtung ist eine innere Struktur, die durch die Täter_innen jederzeit steuerbar ist und für die das Kind und später der Erwachsene im Alltag keine bewusste Erinnerung hat.\

(Fachkreis, 2018, Seite 5)

Der Realitätsgehalt hinter dieser Aussage dürfte gegen Null gehen. Der Hinweis, das Thema Mind Control auf den wissenschaftlichen Prüfstand zu stellen, wirkt in dieser Hinsicht wie ein verharmlosendes Eingeständnis. Zu den eben genannten Behauptungen existieren keinerlei gesicherte Erkenntnisse - was auch für das Thema Gehirnwäsche gilt. Um Mind Control auf den wissenschaftlichen Prüfstand zu stellen wäre es vorher notwendig, dass der Begriff über eine Form von wissenschaftlicher Akzeptanz verfügen würde, was allerdings nicht der Fall ist.

Ferner kann noch in den Raum gefragt werden, ob die Verknüpfung von Mind Control und dem Parental Alienation Syndrom eher ein Framing darstellt, um das Thema “Kindschaftsrecht” einzubeziehen, wodurch indirekt an eine Expertise zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung angeknüpft wird. Die Autoren regen in dieser Expertise an, Glaubhaftigkeitsgutachten vor Gericht nicht mehr anzuwenden – was einer Beweislastumkehr entsprechen würde. (Fegert et al, 2024a).

Ein Genuss war die Replik der Autoren Volbert et al (2025), die die Expertise zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung, zumindest in meinen Augen, ziemlich ad absurdum führt.

Persönliches Fazit

Kritiker haben es nun Schwarz auf Weiß, dass “Rituelle Gewalt” unterschiedlich definiert wird – Herzlichen Glückwunsch! So gesehen bieten die Ausarbeitungen kaum neue Erkenntnisse.

Kleine Eingeständnisse, wie die Anregung den Begriff Mind Control zu hinterfragen, wirken zwar wie ein Entgegenkommen, zeigen aber auch wie schwer es ist, selbst gegen offensichtlichen Blödsinn zu argumentieren. Mir stellt sich eher die Frage, warum man überhaupt noch darüber diskutieren muss.

Die Frage, in welchen Kontexten der Begriff “Rituelle Gewalt” verwendet und wie er dort definiert wird, kann in meinen Augen aufgrund des Designs nicht geklärt werden. Dem Arbeitsauftrag entnehmend suchte man eher nach Definitionen im Kontext von sexuellem Missbrauch an Kindern und jungen Erwachsenen. So gesehen passt die Einleitung des Narrativen Reviews nicht zur erarbeiteten Fragestellung.

Dadurch weist ebenso der “Lösungsansatz” seine Schwächen in Bezug auf die Problemstellung auf. Die Bequemlichkeit der Autoren sehe ich hier als eine der möglichen Ursachen. Wieso sollte man sich auch doppelte Arbeit machen, wenn man mit der Expertise bereits eine fundierte Ausarbeitung mit ähnlicher Fragestellung angefertigt hat.

Die Verwendung einzelner Begriffe, und wie man versucht, diese in bestimmte Kontexte zu bringen, spiegelt die Anliegen der Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten wider: Rituelle Gewalt, Familienrecht, Aussagenpsychologie - das (falsche) Wissen an Politik, Justiz, Medien und Helfer weitergeben.

Betrachtet man Repliken zu den bisherigen Expertisen und Artikeln, die im Auftrag der Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten angefertigt wurden, wiesen diese Arbeiten deutliche fachliche Schwächen auf.

Die Bestrebungen und Fortschritte, Justiz und Politik zu beeinflussen, sind jedenfalls alarmierend. Werden die Beteiligten sich jedoch weiterhin in Pipi Langstrumpf Manier ihre Welt zurechtbiegen, kann das für uns alle nur Nachteile mit sich bringen.

Man muss abwarten was die Zukunft bringt und weiterhin hoffen, dass der wissenschaftliche Widerstand bestehen bleibt.

Zum Weiterlesen

Quellen

Becker, Thorsten (1996): Ritueller Mißbrauch von Kindern in Deutschland - Frage oder Feststellung?. In: KJuG - Kind Jugend Gesellschaft - Zeitschrift für Jugendschutz; 41. Jahrgang - Heft 4, November 1996; S. 121 f.

Becker, Thorsten & Felsner, Patrick (1996): Ritueller Mißbrauch. Veröffentlicht in: Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Hamburg e.V. (Hg.): Satanismus und Ritueller Mißbrauch: Aktuelle Entwicklungen und Konsequenzen für die Jugendhilfe - Dokumentation einer Fachtagung; Hamburg: Selbstverlag, 1996
https://web.archive.org/web/20160415223949/http://download.beckertho.de/open/Ritueller_Missbrauch.pdf

Becker, T., Kühn, M. (2019), Rituelle Gewalt – eine Heraus­forderung für die Trauma­pädagogik?, Trauma & Gewalt, Mai 2019, 13. Jahrgang, Heft 2, pp 140-150 DOI 10.21706/tg-13-2-140
https://elibrary.klett-cotta.de/article/10.21706/tg-13-2-140?pid=99.120130

Caddy, Glenn - Informationen zur Person
https://therapynext.com/Profile/GlennCaddy https://www.parentalalienationeducation.com/speaker/glenn-ross-caddy-bio/ https://www.proquest.com/openview/b5b5b2094a26ff4f833161b78cdec714/1?pq-origsite=gscholar&cbl=18750&diss=y

Bergmann, C., Gahleitner, S. B., Gebrande, J., Katsch, M., … Rixen, S. (2024). Kommentar zum Positionspapier von Mokros, A. et al. (2024), Rituelle sexuelle Gewalt. Psychologische Rundschau, 75(3), 229–231. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000676

DadsDivorce.com, “Parental Alienation Syndrome: Power and Mind Control In PAS” https://dadsdivorce.com/articles/parental-alienation-syndrome-power-and-mind-control-in-pas/

Definitionen “Rituelle Gewalt”, Infoportal Rituelle Gewalt
https://www.infoportal-rg.de/meta/definitionen/

Fachkreis »Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen« beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, (2018) https://www.bundeskoordinierung.de/de/article/117.fachkreis-beim-bmfsfj-ver%C3%B6ffentlicht-empfehlungen-an-politik-und-gesellschaft.html

Fegert JM, Gerke J, Kliemann A, Pusch M, Rixen S, Sachser C (2024) Expertise: Die Methode der forensischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung im deutschen Sprachraum – Ein interdisziplinäres Plädoyer für eine kritische Bestandsaufnahme zur Anwendung der sogenannten „Nullhypothese“ in unterschiedlichen Verfahrenskontexten.
https://beauftragte-missbrauch.de/fileadmin/user_upload/Materialien/Publikationen/Expertisen_und_Studien/Expertise_Glaubhaftigkeitsbegutachtung.pdf

Gerke, J., Stachelscheid, A., Mattstedt, F.-K., Fegert, J.M. & Rassenhofer, M. (2023). Expertise zu Begrifflichkeiten und Häufigkeiten im Bereich organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt
https://www.uniklinik-ulm.de/fileadmin/default/Kliniken/Kinder-Jugendpsychiatrie/Dokumente/Expertise_Organisierte_rituelle_Gewalt.pdf https://www.uniklinik-ulm.de/veranstaltungen/detailansicht/save-the-date-filmvorfuehrung-blinder-fleck.html

Gerke, J., Mattstedt, F.-K., Rassenhofer, M. & Fegert, J.M. (2024a). Wovon sprechen wir eigentlich? Begriffsabgrenzungen zwischen organisierter sexualisierter Gewalt, kommerzieller Ausbeutung und ritueller Gewalt. Trauma & Gewalt, 18 (2), 100–111. DOI 10.21706/tg-18-2-100
https://elibrary.klett-cotta.de/content/pdf/10.21706/tg-18-2-100.pdf

Gerke J, Fegert J, Rassenhofer M, Fegert JM. Organized sexualized and ritual violence: Results from two representative German samples. Child Abuse Negl. 2024 Jun;152:106792. doi: 10.1016/j.chiabu.2024.106792. Epub 2024 Apr 21. PMID: 38643644.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/38643644/

Caddy, G. R. (2012). Family Pathology and the Creation of Madness: A Case Study of Mind Control. The American Journal of Family Therapy, 40(4), 297–319. https://doi.org/10.1080/01926187.2011.614843

Harder, B., (2024), Rituelle Gewalt – Mind Control: „Elitenverschwörung oder Verschwörungstheorie?“ jetzt kostenlos zum Download
https://blog.gwup.net/2024/06/17/rituelle-gewalt-mind-control-elitenverschwoerung-oder-verschwoerungstheorie-jetzt-kostenlos-zum-download/ https://www.gwup.org/wp-content/uploads/pdf/GWUP_Broschre_RG-MC-dc4.pdf

Herzog, P., Kaiser, T. & Huntjens, R. J. C. (2025). Von hartnäckigen Fiktionen und unbequemen Wahrheiten über die Dissoziative Identitätsstörung: Ein Faktencheck aus wissenschaftlicher Perspektive. Psychotherapeutenjournal, 24 (1), 37–47. https://doi.org/10.61062/ptj202501.005

Kirche+Leben (2022)
https://www.kirche-und-leben.de/artikel/missio-frauen-werden-in-immer-mehr-laendern-als-hexen-verfolgt

MeSH-Terms, Medical Subject Headings, abgerufen am 26.07.2025
https://de.wikipedia.org/wiki/Medical_Subject_Headings

Mitglieder der Aufarbeitungskommission, abgerufen am 26.07.2025
https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/ueber-uns/kommissionsmitglieder/

Netzwerk „Rituelle Gewalt“ besteht zehn Jahre, WAZ, 24.04.2013
https://www.waz.de/staedte/witten/article7875964/netzwerk-rituelle-gewalt-besteht-zehn-jahre.html

Renate Rennebach Stiftung, Definition “Rituelle Gewalt”
https://www.renate-rennebach-stiftung.de/rituelle-gewalt.html

Rituelle Gewalt in Kinderhändlerringen und destruktiven Kulten, 13. Wahlperiode, 23.06.1998
https://dip.bundestag.de/drucksache/rituelle-gewalt-in-kinderh%C3%A4ndlerringen-und-destruktiven-kulten/102496

Sozial.de, Wie kann Opfern organisierter ritueller Gewalt geholfen werden?, 10.07.2023
https://www.sozial.de/wie-kann-opfern-organisierter-ritueller-gewalt-geholfen-werden.html

Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) (2011). Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine Bergmann. Berlin: UBSKM.
https://beauftragte-missbrauch.de/fileadmin/user_upload/Publikation_-_Abschlussberichte/Abschlussbericht-der-Unabhaengigen-Beauftragten-zur-Aufarbeitung-des-sexuellen-Kindesmissbrauchs.pdf

Volbert, R., Brackmann, N., Gewehr, E. et al. Falsche Prämissen und eine vertane Chance – Replik auf die „Expertise“ zur Methode der forensischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung (Fegert, Gerke, Kliemann, Pusch, Rixen & Sachser, 2024). Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2025). https://doi.org/10.1007/s11757-025-00886-3

Vorgang - Enquete-Kommission, Enquete-Kommission “Sog. Sekten und Psychogruppen” (G-SIG: 13011325), 13. Wahlperiode
https://dip.bundestag.de/vorgang/enquete-kommission-sog-sekten-und-psychogruppen-g-sig-13011325/122293